Filmarchiv | Fastentuch 1472
Fastentuch 1472
Eines der großen sakralen, mittelalterlichen Textilkunstwerke! Regie: Bernhard Sallmann
Eines der großen sakralen, mittelalterlichen Textilkunstwerke!
Einst verhüllte das Fastentuch, auch Schmachtlappen oder Hungertuch genannt, während der Fastenzeit das Kruzifix in den Kirchen. Das Große Zittauer Fastentuch von 1472 ist als einziges bei uns erhaltenes Beispiel des Feldertyps das drittgrößte weltweit. 90 prächtige Einzelbilder nach biblischen Motiven wurden auf ein 9 mal 7 Meter großes Leinentuch gemalt. So wandelte sich ein verhüllendes Hilfsmittel zu einem Werk von ganz eigener Schönheit und Präsenz, das heute in Zittau wieder zu bestaunen ist.
Der Film verfolgt die Geschichte und den Werdegang dieses mittelalterlichen Kunstwerks. Die einzelnen Bilder und ihre Machart werden nahezu forensisch untersucht. Die Kamera dringt gleichsam in das grobe Leinen ein, scannt es in langen Parallelfahrten. In mehreren Interviewpassagen kommen außerdem Menschen zu Wort, die einen näheren Bezug zum Fastentuch haben. Bernhard Sallmann webt dabei selbst einen Teppich aus Erzählungen über die Wiederbelebung von Objekten, den Zusammenhang von Kunst und Religion und Methoden der Restauration. Aus den biblischen Geschichten von der Entstehung der Welt, aber auch dem späteren calvinistischen Bilderverbot – das Tuch ist eigentlich ein Bilder-Verhüllungstuch, aus dem eine Bilderflut hervorbricht – erwächst die Geschichte des Kulturraums um Zittau im Dreiländereck Deutschland, Tschechien und Polen.
Regie & Drehbuch: Bernhard Sallmann
Erzähler: Falilou Seck
Musik: Jürgen Kurz
Schnitt: Christoph Krüger
Animation: Harald Kögler, Christoph Krüger
Ton: Klaus Barm
Produzent: Jens Körner
Mit:
Amelie Neumann & Celina
Dr. Mechthild Flury-Lemberg
Pater Friedhelm Mennekes S.J.
Dr. Volker Dudeck
Pfarrer Ansgar Schmidt
Bernd Wabersich
Bernd Rothmann
Charlotte Lehmann
Dokumentarfilm, DCP, 90 min, gedreht im Frühjahr 2015 in Zittau.
Bernhard Sallmann, geboren 1967 in Linz, ist ein in Berlin ansässiger freier Fimemacher. Besondere Beachtung erfuhren seine engagierten Arbeiten zur Lausitz und insbesondere der vierteilige Zyklus zu Fontanes Wanderungen.
Johannes Beringer: Fastentuch 1472
Sich mit einem fremden Objekt befassen – nicht aus dem Weltraum, sondern aus dem eigenen Kulturraum, dem europäisch-deutschen (Zittau im Dreiländereck Deutschland, Tschechien, Polen). Ein irdisches Objekt also, von dem wir uns geschichtlich so weit entfernt – uns ihm entfremdet – haben, dass es uns tatsächlich vorkommt wie von einem anderen Stern. Ein Objekt allerdings, das eine ganz vertraute Geschichte erzählt, in Bildern und Worten spricht, die an etwas rühren, das uns von altersher bekannt sein müsste.Mehrfache Arbeit, die dieser Film leistet: Er bringt uns optisch/kinematographisch die Bilderzählung nahe, die auf dem Großen Zittauer Fastentuch in einer Folge von neunzig Bildern dargestellt ist – und findet eine Sprache für dieses (aus dem Alten und dem Neuen Testament) Dargestellte. Er begibt sich in die Bilder hinein, spricht aus ihnen heraus, transponiert den darin enthaltenen Ausdruck samt den Legenden in ein heute verständliches Deutsch. Dann bestimmt er – historisch, materiell, ideell – den Charakter dieses Objekts, situiert es durch Interviews mit Personen, die dazu maßgeblich etwas zu sagen haben, aus heutiger Perspektive neu.Das macht, dass uns dieses fremde Objekt sehr nahe kommt – und doch der notwendige (weil gegebene) Abstand gewahrt bleibt. Ein mittelalterliches Weltbild eröffnet sich, das ganz im Glauben lebt, innig ist, von naiver Frömmigkeit. Den da dargestellten biblischen Figuren haftet überwiegend der Gesichtsausdruck eines kindlichen Staunens an, wie wenn der oder die (anonymen) Maler einfach die schöne Einfalt aufgegriffen hätten des gläubigen Volkes um sie herum.
Schon die Bezeichnungen, mit denen wir diese Welt charakterisieren, entfernt sie von uns, machen den Abstand und die ‚Verlorenheit‘ klar. (Es sei denn, wir gucken ein bisschen unseren Kindern und vielleicht den Simpeln und Toren zu.) Aber lautet die Lektion nicht vielmehr: Verloren waren nicht die Menschen dieser vergangenen Welt, verloren sind vielmehr wir. Wir haben uns (mit unseren heutigen Fantasmen, im Bann der „Technosphäre“, dem „Diktat des Augenblicks“) gut erheben über ein ‚geschlossenes Weltbild‘ (das immerhin für eine gewisse Geborgenheit bürgte) – in ein paar Jahrzehnten schon wird man unser heutiges Weltbild als genauso antiquiert ansehen. ‚Was haben die sich bloß eingebildet, damals!‘ (Vorausgesetzt, irgendeine Art Urteilsvermögen ist noch in Kraft in der künftigen Menschheitsgeschichte.) Und wenn man sich vor Augen hält, dass der Abstand zum Fastentuch-Weltbild (vor dem Hintergrund der ‚Schöpfungsgeschichte‘, den ca. 4,6 Milliarden Jahren Evolution auf dem Planeten) eigentlich nicht mehr ist als ein Wimpernschlag, will einem scheinen, dass diese Art Überstürzung und Überhebung nur im Nichts (woher wir gekommen sind) enden kann.
(Geschrieben 2015, https://newfilmkritik.de/archiv/2015-10/fastentuch-1472/)
Ralph Eue: “Es war, als ob meine Augen Fingerspitzen hätten …”
Bernhard Sallmanns FASTENTUCH 1472
Es hebt an mit dem kurzen Überblicken eines horizontal und vertikal gleichmäßig gerasterten, altertümlich und sakral anmutenden Bildwerks, darin Momente der christlichen Heilsgeschichte dargestellt sind – unter anderem zu erkennen: die Kreuzigung, das Abendmahl, Jesus wird getauft.
Das Objekt scheint sich über alle vier Ränder der Leinwand (oder des Monitors) hinaus zu erstrecken und befördert die Vermutung einer immens großen, überdimensionierten, zum Teil leicht gewellten Oberfläche. Sämtliche Bildfelder sind ‘unterschrieben’. Blickrichtung und Perspektive: Schräg auf den ausgebreiteten Gegenstand oder daran empor schauend. Von der ersten Sekunde an: Kamerafahrt von rechts nach links, leicht aufwärts geschwenkt und etwas spitzwinkliger werdend, so dass die untere Bildzeile verschwindet, der Eindruck der Unermesslichkeit nach oben aber befördert wird.
Der Gestus, im Hinblick auf die Richtungs- und Bewegungskonventionen unseres Lesens (von links nach rechts und oben nach unten): es soll zum Anfang gehen. Danach Abblende ins Schwarz. Aus dem Schwarz der Titel in weißen Lettern: FASTENTUCH 1472.
Das so betrachtete Objekt ist das große Zittauer Fastentuch. Es stammt aus dem Jahr 1472. Seine Technik ist die sogenannte nasse Tüchleinmalerei auf Flachsgewebe in Leinenbindung. Das Tuch selbst wurde aus sechs senkrechten Bahnen Stoß an Stoß zusammengenäht und dann bearbeitet. Es ist zirka 56 qm groß und misst 820 × 680 cm. Das in seiner Art drittgrößte der erhaltenen Fastentücher überhaupt gehört zum sogenannten zentralen Feldertypus. Es zeigt neben einer umlaufend gemalten Rahmung 90 Einzelfelder mit Szenen aus der biblischen Geschichte, die jeweils etwa 65 × 65 cm groß sind. Die zehn Reihen à neun Bilder illustrieren die christliche Heilsgeschichte. Das große Zittauer Fastentuch, auch Zittauer Bibel genannt, ist eine große Erzählung in der die Komplexität der biblischen Geschichte auf ihren Grundbestand reduziert ist. Das Tuch wird heute fast senkrecht in einer Plexiglas-Vitrine in der Zittauer Johanniskirche (inzwischen Museum) verwahrt. Von den wenigen erhaltenen Fastentüchern weltweit wird nur dieses auch in seinem originalen Umfeld präsentiert.
Zuerst zwei Mädchen. Schüchtern, ein bisschen steif und unbehaglich. In Parka und Duffle-Coat stehen sie im Dunkel der Kirche mit Blick in die Höhe, vom Regisseur Bernhard Sallmann vor das Fastentuch hingestellt. Aufgenommen sind die beiden Mädchen, als würden sie ihrerseits auch vom Fastentuch angeschaut. Vermutlich haben die Filmemacher sie gebeten, ‘einfach’ darüber zu sprechen, was sie sehen, denken, empfinden. Da solche Aufstellung aber weder organisch noch selbstverständlich und schon gar nicht einfach ist, sieht die Sache auch weder selbstverständlich noch organisch und schon gar nicht einfach aus.
Offenbar haben sich die beiden Kinder für ihre Betrachtung zuerst ein Bildfeld ausgesucht, in dem die Geschichte der Arche Noah erzählt wird. Interessanter für die beiden ist anscheinend aber ein benachbartes Feld, in dem Geschwister zanken. Zu hören die kindliche Übertragung des Bildgeschehens ins eigene Erleben: “Aber das, wo er hier so umgeschlagen wird find ich ooch n bisschen traurig. Seinen eigenen Bruder k.o. schlagen! Manchmal nervt mich meine Schwester ooch, aber ich schlag se doch nich k.o.” Die andere: “Na ja, der hier war aber ziemlich gewalttätig, wenn er vom Schlag getötet wurde. Sein eigener Bruder!”
Da fließen die Erläuterungen nicht geschmeidig dahin wie zerlassene Butter. Da wird auch nicht stante pede gläubige Ergriffenheit simuliert. Da wird erstmal gesetzt was ist, nämlich eine absolute Ferne zwischen dem Heute des Schauens und dem damaligen Sein des Werks. Es wird aber auch gesetzt, dass einem solchen Werk eine enárgeia eignet, eine Bildmacht, die vielleicht mit der Beschreibung von Gemütserregungen korrespondiert, wie sie der Kunsthistoriker James Elkins gesammelt hat – u.a. in The Object stares back. On the Nature of Seeing (1997) oder Pictures and Tears. A History of People who have cried in front of Paintings (2001) – worin sich u.a. der Bericht einer alten Dame findet, die ihre erste Begegnung mit einem Bild von Marc Rothko so beschreibt: “I felt as if my eyes had fingertips moving across the brushed textures of the canvases.”
Das Zittauer Fastentuch berichtet in Bild und Schrift (Unterschreibungen in 45 Doppelversen mit Endreim) über die Geschichte der Menschheit, wie sie dem ausgehenden Mittelalter erschienen sein muss. Penetrant weltlich geht es da zu. Fortwährender Bruderzwist und Verrat: Kain und Abel, Joseph und seine Brüder, Moses und Aron. Das Taumeln der Menschen durch Bosheit, Rechtlosigkeit und Gewaltsinn. Ein nicht enden wollendes Hauen und Morden im Zusammenhang einer viele Generationen umspannenden Familiensaga.
Der Film FASTENTUCH 1472 vollzieht respektvoll die Erzählung des Tuchs nach und unternimmt es zugleich – dies ist das aufregende Kunststück des Films – , das Weltbild, welches in dieser Arbeit sich ausdrückt in der Fremde der Vergangenheit zu belassen und dennoch (als Fremdes) unserem Verstehen zu öffnen.
Die reinen Fastentuchsequenzen unterbrechend: acht Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft, die in verschiedener Weise von dem Tuch berührt wurden. Nach den bereits erwähnten Mädchen sind dies ein jesuitischer Theologe und Kunstsachverständiger, ein evangelischer Pfarrer, ein Zittauer Bürger, der marxistisch geprägte Vorsitzende des Zittauer Fastentuch-Vereins, eine Museumsführerin, eine renommierte Schweizer Textilrestauratorin. In der Gesamtheit ihrer Beiträge, Überlegungen und Erzählungen fächert sich das Unwägbare auf, das jeder Kunst innewohnt, ihr Überraschungsmoment, welcher den Denk- und Empfindungsraum immer wieder neu zwischen einem Werk und einem Rezipienten öffnet.
Man kann den Film übrigens als ideale Sehhilfe ansehen. Da es aus konservatorischen Gründen untersagt war, am Objekt selbst zu drehen, arbeitete er ausgehend von großformatigen Ektachromes, die bei der aufwändigen Restaurierung des Textils Mitte der 1990er Jahre in der Schweiz angefertigt wurden. So gelingt es Sallmann still souverän das gegebene räumliche Handicap der Präsentation des Tuchs an seinem angestammten Platz, der Zittauer Johanniskirche, zu parieren. Denn tatsächlich wird niemand nirgends nie dieses Textil besser betrachten können als in einer sorgfältigen Projektion im Kino. Man denke nur daran, wie im Standardwerk zum Zittauer Fastentuch (Die Zittauer Bibel. Bilder und Texte zum großen Fastentuch von 1472. Herausgegeben von Friedhelm Mennekes) die Umstände der Betrachtung vor Ort geschildert werden: “Da der Betrachter die Bilder nur aus großer Distanz sehen kann wird er, die Einzelbilder kaum genau und ausdauernd anschauen. Sie fungieren nur als Anregung für ein persönliches inneres Bild.”
Auf dem Dokumentarfilmfestival von Leipzig, wo FASTENTUCH 1472 seine Weltpremiere hatte, wurde dem Film und seinem Regisseur vorgeworfen, dass sie an der Aktualität vorbeischössen. Man möchte das Argument vom Gegenwartschauvinismus ins Feld führen, oder die Rede vom Angriff der Gegenwart gegen die übrige Zeit. Der britische Kunsthistoriker, Romancier und Essayist John Berger hat sich dazu, im Zusammenhang zweier zeitlich weit auseinander liegenden Begegnungen mit dem Isenheimer Altar, einmal schön geäußert: “Es ist eine Binsenweisheit, dass sich die Bedeutung eines Kunstwerks mit seinem Überdauern wandelt. Normalerweise dient diese Einsicht dazu, um zwischen ihnen (in der Vergangenheit) und uns (heute) zu unterscheiden. Wir neigen im Allgemeinen dazu, sie und ihre Reaktionen auf Kunst als in Geschichte befangen zu betrachten, während wir gleichzeitig uns selbst einen Überblick zutrauen; man blickt gewissermaßen von einem Gipfelpunkt der Geschichte zu ihnen hinunter. Dann scheint das bis heute überdauernde Kunstwerk unsere überlegene Position zu bestätigen. Das Ziel seines Überdauerns waren wir. Das ist Illusion. Man ist nie von der Geschichte ausgeschlossen.” (Aus: Kolik)
Bernhard Sallmann
DAS GROSSE ZITTAUER FASTENTUCH VON 1472
Ein Leinentuch von 1472 mit den stattlichen Ausmaßen von beinahe 9 × 7 Meter. Darauf aufgemalt sind 90 Motive aus der Bibel: In zehn Zeilen zu je neun Bildern. Ein Einzelbild misst 65 × 65 Zentimeter. Vor fünf Jahrhunderten hing es zur Fastenzeit (die 40 Tage vor Ostern) in der Kirche Sankt Johannis in Zittau/Oberlausitz. Heute hängt es wieder in Zittau in der zum Museum umgeformten Heilig Kreuz Kirche.
Zufällig lernte ich 2010 das Große Zittauer Fastentuch kennen. Es hat mich von Anfang an mit seiner Schönheit, seinem Alter, aber auch seinen Beschädigungen und Verletzungen in seinen Bann gezogen. Das Filmprojekt ist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte und Kultur einer bemerkenswerten Region.
In Zittau, jener ostsächsischen Stadt an der Grenze zu Polen und Tschechien, hängt seit 20 Jahren wieder DAS GROSSE ZITTAUER FASTENTUCH VON 1472.
Im ausgehenden Mittelalter war Zittau eine blühende Handelsstadt. Das Fastentuch ist Ausdruck dieses Reichtums. Der Gewürzhändler Jakob Gürtler hat es der Stadt gespendet. Während in der erhaltenen Schenkungsurkunde dieser Sachverhalt dargelegt ist, weiß man nicht, wer es gemalt hat. Es könnte sich um Zittauer Franziskanermönche gehandelt haben.
Damals wurde ein Fastentuch in den 40 Tagen vor Ostern in eine katholische Kirche gehängt, um die Vorstellung an das Leiden Jesus in der Passionszeit zu intensivieren. Das Tuch wurde in der Zittauer Johanniskirche zwischen den die Messe lesenden Priester und die Kirchengemeinde gehängt. Somit wurde der Altar, das Allerheiligste, verhängt.
Eine interessante Praxis: Die Kirchengemeinde hat lediglich die Stimme des Priesters gehört, konnte ihn jedoch nicht sehen (und umgekehrt). Stattdessen konnte es das immense, Ehrfurcht gebietende fast neun Meter lange und sieben Meter breite Fastentuch sehen, das wiederum den Altar verhüllt hat. Die Andacht an das Leiden Jesus sollte dadurch verstärkt werden. Es ist nicht genau überliefert wie das Fastentuch wahrgenommen wurde. In jedem Fall ist es eine sehr interessante und zugleich merkwürdige Anordnung. Der sonst zu sehende Priester war unsichtbar, stattdessen sahen die KirchgängerInnen ein Riesenbild von der Größe einer heutigen Zweiraumwohnung (fast 60 Quadratmeter).
Gewiss bestand ein Wissen um die Bibelgeschichten und die 90 Abbildungen reichten, um Assoziationen oder religiöse Andacht auszulösen. Man muss sich aber auch vorstellen, dass etwa die Bilder der obersten Bildreihen so hoch hingen, dass sie nicht genau gesehen werden konnten. Auf etwa zehn Meter Höhe. Wie hat man sich während der Messe verhalten? Konnte man alle Bilder studieren? Alle einzeln? Alle als ein Super-Bild? Sah man in die ganze Bibel hinein? Was geschah?
Im Fastentuch zu sehen sind 90 Bildmotive aus der Bibel, je 45 aus dem Alten und Neuen Testament. Die Bilder sind in zehn Reihen zu je neun Bildern aufgemalt. Ein einzelnes Bild hat die Ausmaße von 65X65 Zentimeter. In mittelhochdeutscher Schrift sind sie gereimt unterschrieben und beschreiben das Dargestellte. Doch wer und wie viele konnten in jenen Zeiten lesen? Exemplarisch seien die ersten drei Bildunterschriften angeführt, um eine Vorstellung der damaligen (regionalen) Sprache zu geben:
Hy schaffte hymmel und erde got
Hier schuf Gott Himmel und Erde
Dor noch dy 4 element gemacht hot
Danach hat er die vier Elemente gemacht
Allhy schyt her den tag von der nacht
Hier scheidet Gott den Tag von der Nacht
WAS IST ZU SEHEN?
Die 90 Bilder sind nicht einzelne Bilder, die Geschichten aus der Bibel verdeutlichen, sondern es handelt sich um Serien von Bildern, die einzelne Bibelgeschichten illustrieren. Wie eine Reihe von Geschichten. 45 Bilder sind Stoffen aus dem Alten Testament entnommen, 45 dem Neuen Testament:
Die den Bilderreigen eröffnende Erschaffung der Welt wird durch fünf Bilder erzählt: Gott erschuf die Welt, er trennte Licht von Finsternis, schuf Sonne und Mond, schuf Pflanzen und Tiere. In neun Bildern werden die ersten Menschen dargestellt: Adam und Eva werden erschaffen, der Sündenfall geschieht, danach die Vertreibung aus dem Paradies. Die Arche Noah und der Turmbau zu Babel werden in sechs Bildern erzählt. Abraham und Isaak (7), Jakob und Joseph (4), Moses und Aron (9). Mit der Mosesgeschichte endet die Abbildungsreihe von Motiven des Alten Testaments.
Die Darstellung von Themen aus dem Neuen Testament eröffnen Szenen aus dem apokryphen, geheimen, Teil der Bibel (6). Den mit Abstand größten Teil der Bilder wird dem Leben und Sterben Jesus gewidmet (39). Es handelt sich um die Darstellung seiner Geburt, seiner Taufe, seines Auftretens als religiöser Verkünder, seiner Werbung um Jünger, schließlich seiner Verfolgung, Verhaftung, Geißelung und Hinrichtung. Nach seinem Tod fährt er in den Himmel. Das 90. und somit letzte Bild des Fastentuchs zeigt das Jüngste Gericht.
DIE GESCHICHTE DES FASTENTUCHES
Die Geschichte des Fastentuches stellt ein Martyrium mit glücklichem Ausgang dar. Das Tuch wurde im Spätmittelalter wahrscheinlich von Franziskanermönchen gemalt und beschriftet. Es wurde in den zwei Jahrhunderten nach seiner Herstellung während der Fastenzeit als religiöser Gebrauchsgegenstand verwendet.
Das Aufhängen von Fastentüchern ist eine katholische Tradition. Gleichwohl sie von Luther bekämpft wurde, hielten die ehedem katholischen ZittauerInnen nach ihrer Reformierung als ProtestantInnen weiterhin (!) an dieser Tradition fest.
Die Habsburger bombardierten im Siebenjährigen Krieg 1757 Zittau. Große Teile der Altstadt mitsamt der Johanniskirche, wo das Tuch sonst verwahrt war, gingen dabei in Flammen auf. Das Fastentuch war jedoch bereits in die Ratsbibliothek geschafft worden, wo es das Feuer unbeschadet überstand.
Fastentücher standen später immer seltener im religiösen Gebrauch. Auch das Große Zittauer Fastentuch wurde von diesem Schicksal eingeholt. Niemand kümmerte sich über 100 Jahre darum, es lag weiterhin in der Ratsbibliothek um eine Stange gerollt. Nach seiner Wiederentdeckung 1840 wurde es ein Exponat von Kunstsammlungen und hing über viele Jahre in Dresden. Erstmals tauchte es seiner religiösen Funktion entkleidet auf.
Nach 1876 kehrte es nach Zittau zurück. Der Museumsverein verwahrte es, zeigte es jedoch kaum mehr öffentlich.
Ein letztes Mal wurde das Fastentuch in Zittau 1933 aus Anlass der „1000 Jahre Oberlausitz“ Feierlichkeiten gehängt. Dann entzog es sich völlig der Öffentlichkeit.
Bomben auf Zittau im Zweiten Weltkrieg konnten ihm nichts anhaben, weil es neben anderen Kunstschätzen in Stollen auf dem Oybin-Berg ausgelagert wurde. Jener Berg, der durch die Malerei der Romantik (Friedrich, Carus) weiterhin eine Konstante im aktuellen Bildergedächtnis ist. Dort fanden es unmittelbar nach Kriegsende sowjetische Soldaten, die es in vier Teile schnitten, die sie zur Abtrennung einer Waldsauna verwendeten. Nach dem Gebrauch blieb es stark ausgebleicht im Wald liegen. Ein älterer Mann fand es und brachte es in einem Handkarren nach Zittau.
Zu DDR-Zeiten wurde es gar in 17 Teile zerschnitten, um es einfacher lagern zu können. Ein gutgemeinter chemischer Reinigungsversuch in den 1970er Jahren war nicht unbedingt zum Vorteil für das Tuch. Ein Plan, es devisenbringend zu verkaufen, wurde nicht in die Tat umgesetzt.
Nach der Wende wurde das vielteilige, geschundene und verschmutzte Tuch unter der Leitung von Herrn Dr. Dudeck, damals Chef der Städtischen Museen Zittau, ausgelegt und fotografiert. Durch glückliche Umstände geriet es in die Schweizer Abegg-Stiftung, die hohe Kompetenzen in der Textilsanierung hat. Dort wurde es kostenlos repariert. Die damalige Stiftungsleiterin, Frau Dr. Flury-Lemberg, kam nach Zittau und begutachtete das 17teilige Tuch. Sie diagnostizierte seinen außerordentlichen Wert und setzte alles daran, dass es wiederhergestellt werden könne. Sie selbst ist die anerkannte Person in der Textilrestaurierkunst. Sie leitete auch die Sanierung des Turiner Leichentuchs. Das durch Fr. Dr. Flury-Lemberg, ihre Nachfolgerin Fr. Dr. Schorta und StudentInnen sanierte Zittauer Tuch weist aber weiterhin nicht unerhebliche Beschädigungen auf. Die Zeit hat an ihm Spuren hinterlassen. Die Praxis der Restaurierung war Bewahrung des Ist-Zustands und nicht Rekonstruktion des Ur-Zustands. Die Schnitte sind vernäht, aber sichtbar. Die fünf Jahrhunderte seines Bestehens haben die Farben gebleicht.
Ein neuer Ort in Zittau musste für das Tuch gefunden werden: Die bereits entweihte Heilig Kreuz Kirche am Altstadtring wurde dafür aufwändig saniert und mit einer riesigen Vitrine, einem Eintrag in das Guinness-Buch zufolge die weltgrößte Museumsvitrine, ausgestattet. In dieser Vitrine hängt, einem gleichmäßigen Klima ausgesetzt, das ehrwürdige Tuch.
Seit 1999 ist es wieder der Öffentlichkeit zugänglich. Etwa 500.000 Menschen sahen es seither. Sowohl regionale BesucherInnen als auch BesucherInnen aus der ganzen Welt.
DAS FASTENTUCH IST MEHR ALS DAS FASTENTUCH
Nun ist es eine erste große Überraschung, dass das Fastentuch von sehr vielen Menschen besucht wird, die dafür Eintritt bezahlen. Es könnte ja auch sein, dass die Heilig Kreuz Kirche ein annähernd verwaister Ort ist, wo sich im Jahr nur 1000 Menschen einfinden. Stattdessen sind es etwa 30.000 BesucherInnen im Jahr.
Ganz bestimmt erfüllt das Tuch nicht nur einen ausschließlich musealen Charakter, sondern es muss ein aktuelles, dringendes Potenzial in ihm stecken, sodass Menschen sich dort einfinden.
Es fällt auf, dass vom Tuch, wenn man über den schönen Kirchhof mit seinen Gruften und kunstvoll behauenen Grabsteinen in die entweihte Kirche eintritt, eine große Kraft ausgeht, die einen respektvoll, vielleicht sogar ehrfürchtig verhalten lässt. Seine Größe besticht ebenso wie seine dezente Ausleuchtung. Es muss sich um etwas Wichtiges, etwas Besonderes handeln, dass vor Jahrhunderten ein solch großes Textil so aufwändig und schön bemalt wurde. Das Zittauer Fastentuch ist nach den Tüchern von Sankt Veit/Österreich und Freiburg/Deutschland das drittgrößte weltweit. Sein kulturhistorischer Wert ist unbestritten.
Nun scheint die Religion für viele Menschen heutzutage nicht mehr relevant zu sein. Nicht mehr allzu viele Menschen sind gläubig in Mitteleuropa. Die religiös inspirierten Geschichten des Fastentuchs haben aber heutzutage eine ebenso gültige Aussage. Sie berühren Menschliches. Auffällig am Tuch sind sehr viele Gewaltdarstellungen, wo sich jede/r wünscht, nicht das Opfer zu sein. Das Tuch ist auf eine Weise auch ein Angebot zur Konfliktlösung, zum Umgang mit dem/r anderen: Liebe, Gemeinschaft, Hass, Krieg, Sorge um die Umwelt. Eine Fülle für unsere Gegenwart höchst relevanter Themen begegnen den kontemplativ Betrachtenden. Man tritt mit dem Tuch in einen Dialog und befragt es. Man erlebt selbst Erlebtes anders wieder. Man kann sich darin spiegeln. Man kann das Fastentuch als Bilderalmanach betrachten. Man kann es wie ein Gedicht lesen. Man kann es wie ein Orakel befragen. Es kann ästhetisch überwältigen.
F A S T E N T U C H
Von dem Wort geht eine besondere Aura aus. Kaum jemand weiß allzu viel von Fastentüchern, ehe er/sie in die Museumskirche eintritt und ihm begegnet. Viele BesucherInnen geraten über pauschal gebuchte Reisen in die Region auch in die Heilig Kreuz Kirche und begegnen dem Fastentuch relativ unvorbereitet. Vielleicht spielt die Möglichkeit zu „Fasten“ – und sei es nur in der halben Stunde des Besuches – eine Rolle. Auch wenn die Gesellschaften in Mitteleuropa ökonomische Krisen zu verdauen haben, leben die Menschen hier in einem gewissen Wohlstand, der nichts mit der Armut, ja dem realen Hunger vergangener Zeiten zu tun hat. Eine Spekulation ist, dass der Gewürzhändler Gürtler das Tuch nach Überwindung einer Pest und Hungersnot gestiftet hat. Vielleicht erfüllt das Tuch eine Sehnsucht, alles Überflüssige einmal beiseite zu legen und sich ganz essentiellen Geschichten auszusetzen. Nicht abgelenkt vom Leben außerhalb des Museumsraumes.
- Credits
-
Regie: Bernhard Sallmann
Produktionsland: D
Produktionsjahr: 2015
nicht mehr lieferbar
Best. Nr.: 4077
ISBN: 978-3-8488-4077-9
EAN: 978-3-8488-4077-9
FSK: Infoprogramm
Länge: 90
Bild: PAL, Farbe, 16:9
Ton: Dolby Stereo
Sprache: Deutsch
Untertitel: englische Untertitel
Regionalcode: codefree
Label: absolut MEDIEN
Rubrik: Dokument